Gedanken zu einer Entwicklung

Erste Professur für Naturheilkunde

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von Conny Dollbaum-Paulsen

Wunderbar, es gibt die erste Professur für Naturheilkunde und Integrative Medizin in Tübingen und damit ein deutliches Statement in die richtige Richtung. Die Robert-Bosch-Stiftung fördert diese Unternehmung über die ersten 5 Jahre, das Land Baden-Württemberg garantiert die Folgefinanzierung.

Inhaltlich geht es vornehmlich um die Erforschung komplementärer Ansätze, also um die Frage, wie naturheilkundlich-integrative Verfahren die schulmedizinischen Interventionen ergänzen kann. Das alles soll solide erforscht werden, damit es Eingang in die staatlichen Gesundheitssysteme finden kann.

Die tollen Projekte der Robert-Bosch-Stiftung zeigen aber auch eines deutlich: Es geht um Forschung innerhalb des Systems, zum Beispiel bei der Förderung der Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe – dort sind wir „Freien“ nicht mitgemeint. Und das wirft Fragen auf. 

Wer forscht wozu?

Beim genaueren Hinsehen wird deutlich: Eingang wird nur finden, was den klassischen Regeln der naturwissenschaftlich orientierten Systeme folgt. Erforscht wird, was passt und was in das aktuelle System integrierbar ist. Dagegen ist nichts zu sagen, sondern im Gegenteil: Je häufiger und selbstverständlicher Integratives in Arztpraxen und einzieht, desto besser für alle Patient*innen. Was für eine tolle Vorstellung, jede Chemo-Therapie würde entsprechend biologisch-naturheilkundlich mit behandelt.

Problematisch könnte eine solche Integration aber dann werden, wenn die gut erforschten Therapien ganz in ärztliche Hand übergehen – und diese Gefahr droht aktuell. Dann haben die Heilpraktiker*innen, die die Naturheilkunde durch alle Anfeindungen und Zweifel getragen haben, das Nachsehen.
Ein anderes Beispiel dieser ambivalent zu deutenden Entwicklung: Mit der Erstattungsfähigkeit der Osteopathie wurde plötzlich eine Methode zum Allheilmittel – nicht, weil sie dies wirklich wäre, sondern weil die Behandlungen schlicht von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden. All die anderen wunderbaren manuellen Methoden versinken in der Bedeutungslosigkeit, werden deutlich weniger nachgefragt – ob das hilfreich für Patient*innen ist, mag bezweifelt werden.

Im Heilnetz sind aktuell knapp 2000 verschiedene Methoden gelistet – ein unfassbarer Reichtum, auch ein Dschungel, keine Frage, aber vor allem eines: Zeichen für eine große Freiheit in der Entwicklung hilfreicher Anwendungen. Das sollten wir doch nicht gefährden vor lauter Sehnsucht, endlich Gnade zu finden vor dem naturwissenschaftlichen Olymp.

Wollen wir Teil des Gesundheitssystems werden?

Das ist eine sehr wichtige Frage, die wir eigentlich nur zufriedenstellend beantworten, wenn wir darüber ausgiebig und mit viel Zeit diskutieren. Wer ist denn überhaupt „Wir“? Zum Beispiel alle Beteiligten, die Menschen ganzheitlich begleiten, also nicht nur Heilpraktiker*innen, auch psychotherapeutische, sondern auch psychologische Berater*innen, Kinesiolog*innen, Gesundheitscoaches, Yoga-Therapeut*innen um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Sie alle begleiten Menschen in Not, ob die Not Krebs oder Allergie heißt, Trennungsschmerz oder Angst, Lebenskrise oder Schlafproblem.

Jede Berufsgruppe tut das auf ihre Weise: Heilpraktiker*innen mit Heilerlaubnis, indem sie klassisch diagnostizieren und therapieren, alle anderen, indem sie ganz verschiedene, auch energetische Systeme der Diagnostik nutzen und/oder Menschen in Not (die nicht unbedingt als krank bezeichnet werden müssen und sich auch nicht unbedingt so fühlen) mit den unterschiedlichsten Methoden begleiten.

Wir alle, also alle freien Gesundheitsberufe, tun das frei, ohne einem Gesundheitssystem gegenüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Und das macht unsere Arbeit so kostbar. Wir verbinden das, was sich bewährt, wir begleiten nie nach Schema F, sondern immer individuell, unsere Arbeit bewegt sich in einem freien Raum. Und das macht sie aus.

Fehlanzeige Qualitätskontrolle?

Ja und nein. Die HP-Verbände versuchen mit eigenen Punktesystemen analog zum ärztlichen Fortbildungssystem Qualitätsanforderungen zu dokumentieren und ihr Klientel davon zu überzeugen. Das ist für eher medizinisch-naturheilkundlich und auch manuell arbeitende Kolleg*innen, die wirklich kranke, teilweise schwerkranke Menschen behandeln, sicher sehr sinnvoll. Viele Ausbildungsinstitute kreieren eigene Zertifizierungssysteme, um einen objektiv messbaren Grad an Qualität zusichern zu können

Und doch: Kann verantwortliches Tun wirklich gemessen werden? Sagt die Anzahl meiner erworbenen Zertifikate etwas über meine wirkliche Qualität als Behandler*in aus? Ganz schnell taucht ja die Frage auf: Was soll denn überhaupt garantiert werden? Anbei eine kleine Auswahl möglicher Kriterien:

  • Fachliches Wissen bei bestimmten Methoden, u.a.:
    Injektionen, Manipulationen am Bewegungsapparat, Medikamentenverabreichung
  • Diagnostik
    Medizinische und psychiatrische Kenntnisse zur Beurteilung schulmedizinischer Befunde
  • Beraterisch-psychologische Kompetenz
    Professionelles Wissen über Behandler*innen-Identität, Umgang mit Diagnosen, unheilbaren und chronischen Erkrankungen in der Übermittlung, Wissen um die eigenen Grenzen
  • Philosophisch-humanistisches Wissen
    Verschiedene diagnostische und therapeutische Weltbilder und ihre Zusammenhänge, Wissen um Ebenen (physisch, psychisch, mental, spirituell), Bezug des schulmedizinischen Weltbildes zum eigenen und die daraus entstehenden Vorteile und Risiken

Zu diesen Fragen Stellung nehmen zu können, müsste Grundlage aller Begleiter*innen sein – auch und gerade der Ärzt*innen, aber eben auch der freien Gesundheitsberufe. Menschen zu begleiten ist keine Frage der guten Spritzentechnik – auch wenn diese ein wesentliches Kriterium ist, wenn es um Injektionsbehandlungen geht, sondern auch eine hohe Anforderung an unsere Herzens- und Hirn-Intelligenz. Die zu überprüfen mag zukünftigen Generationen möglich sein – noch sehe ich keine Chance, dies hilfreich zu dokumentieren.

Was bleibt: Die Selbstverantwortung

Wollen wir also unsere Freiheit behalten, hat das Konsequenzen. Wir bleiben freie Unternehmer*innen, verbunden mit allem Wohl und Wehe, das damit verbunden ist. Wir müssen uns selbst verpflichten, hohe Standards zu entwickeln und kollegial zu erarbeiten, dazu dienen Verbände und professionelle Netzwerke sowie Ausbildungsinstitute und Unternehmen wie Heilnetz, die solche Fragen aufgreifen.

Und es ist dringend notwendig, über solidarische Projekte nachzudenken, die es auch Menschen mit geringen oder fehlendem Einkommen ermöglichen, unsere Angebote zu nutzen. Da gibt es großen Handlungsbedarf und wir brauchen viel frischen Geist für eine solche Umsetzung. Aber: Wir sind dran, Projekte wie das von Heike Goebel mit Naturheilpraxis ohne Grenzen zeigt https://www.naturheilpraxis-ohne-grenzen.de

Dieser Artikel will nicht vollständig sein, nicht recht haben oder Wahres verkünden – er will nur eins: Nachdenklich machen, bevor wir zum Beispiel auf Facebook begeistert liken, wenn Nachrichten wie die zur neuen Professur über den Bildschirm flackern.

Hier der Artikel oder stein des Anstoßes: https://mwk.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/erste-professur-fuer-naturheilkunde-und-integrative-medizin-in-baden-wuerttemberg/?fbclid=IwAR1NjMNqCxRcHhpztA7NyHXrwnLnVHL6e6Y0AI121q-z7ySc7ZP4OoXR8Kk

 

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Danke schön für's Warten.